Dieser Text von der Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan erschien ursprünglich am 21/03/2018 auf orbanism.com
Erklärungsversuch, 2018
Vor ein paar Tagen noch war ich auf dem Weg nach Leipzig, von einer verschneiten schwedischen Insel an der Peripherie jeglicher geografischer und politischer Relevanz, zum Herzen dessen, was unsere Gesellschaft derzeit am härtesten prüft. Auf Einladung des Aktionsbündnisses Verlage gegen Rechts fuhr ich zur Leipziger Buchmesse, um an einer Diskussion zum Thema „Über Rechte schreiben“ teilzunehmen, zusammen mit Liane Bednarz, Sascha Lobo und Andreas Speit. Später würde ich zusammen mit Christiane Frohmann und Michaela Maria Müller unser gemeinsames Projekt Tabletalk Europe vorstellen und mit der Autorin und Aktivistin Lesley-Ann Brown über ihr bald erscheinendes Buch Decolonial Daughter, Letters From A Black Woman To Her European Son sprechen.
Jetzt sitze ich wieder in dem Haus auf dem Land, das ich derzeit bewohne, das aber sicher nicht in meiner Heimat steht, wobei ich auch nicht weiß, wo diese Heimat sein soll. Der Schnee liegt noch immer auf den Feldern, und ich denke an Stéphane Hessel, der mit 93 Jahren seinen Essay „Empört Euch!“ verfasste und damit Millionen Leser*innen erreichte. Darin schreibt er:
„Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall.“
– Stéphane Hessel: Empört euch!, Ullstein, Berlin 2010, S. 10
Das Denken in nationalen Grenzen ist ein Zombie
Wer würde einem Intellektuellen und Diplomaten wie Hessel, der in der Résistance kämpfte und als Häftling in Buchenwald saß Naivität und Hysterie vorwerfen wollen? Diesem Mann, der ein einzigartiger Zeuge und Akteur des 20. Jahrhunderts war? Hessel hat Zeit seines Lebens die uns alle verbindende humane Substanz als Basis seines Denkens und Handelns genutzt. Der Philosoph Michael Walzer mag vielleicht Recht haben, wenn er sagt, dass die universalistische „dünne“ Moral erst nach der „dichten“ kulturell integrierten Moral komme und uns deshalb nur temporär zusammenbringe. Aber die von Hessel mitunterzeichnete Charta der Menschenrechte lebt von dieser Moral, die er dünn nennt. Das bedeutet nicht, dass kulturelle und lokale Bedingtheiten keine Rolle mehr spielen oder dass alles zur Disposition steht. Doch in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland müssen Werte und Normen stets vom universellen Menschenrecht ausgehend definiert und auf Erweiterung und Demokratisierung ausgerichtet werden. Das Denken in nationalen Grenzen ist wiederaufgelebt, aber es ist ein Zombie.
Der Fuchs ist im Hühnerstall, und die Gockel sagen „Regt euch ab“
Als ich am Flughafen Berlin-Schönefeld ankam, betrachtete ich als erstes die Titel der im Flughafenshop ausliegenden Zeitschriften und Zeitungen. Ich war erschrocken, dort in der physischen Realität zu sehen, was für mich bislang aufgrund meiner räumlichen Distanz zu Deutschland während der letzten gut drei Jahre nur auf Twitter stattgefunden hatte.
Fotos: Asal Dardan
In der Zeit, die ich nicht mehr in Deutschland lebe, hat sich sichtlich etwas verändert, und zwar so eklatant, dass ich das Gefühl hatte, an einem mir bekannten Ort angekommen zu sein, ohne ihn wiedererkennen zu können. Zu viel scheint angesichts der Zukunftsangst mancher Personen und Gruppen wieder verhandelbar zu sein, was etwa die Empörung angesichts von Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Faschismus zeigt. „Cool down“, hieß es in einem Artikel, der zur Eröffnung der Buchmesse im Freitag erschien und mich auf dieser Reise beschäftigte. Darin wird Verlage gegen Rechts als performativer Widerspruch missverstanden, bei dem es darum ginge, „andauernd und immer wieder all das zu verneinen, was von ’rechts’ bejaht wird.“ Diese Einschätzung setzt voraus, dass man seine Position als von rechts Unbedrohter nicht reflektiert und verkennt, dass nicht die Diskurshoheit, sondern die Solidarität im Zentrum von Verlage gegen Rechts steht. Es geht der Initiative, den Menschen, die sich in ihrem Rahmen engagieren nicht um ein Dagegen, sondern um ein Dafür – für ein pluralistisches Zusammen. Das mag aus einer entpolitisierten Haltung heraus belächelt werden, aber wenn man das, was Rechte publizieren, politisch weiterdenkt, dann ist Solidarität in diesen Tagen alles andere als lächerlich – Solidarität ist mutig und wichtig.
Es ist kurzsichtig, nur nach rechts zu schauen und zu meinen, man könnte da etwas „ins Leere laufen lassen“, wenn bereits der neue Innenminister eine gesamte Gruppe von in Deutschland lebenden Menschen auf der Basis von Religion ausschließt. Es ist schlichtweg empörend, dass Horst Seehofer, der ja nun auch den Titel des Heimatministers trägt in seiner ersten Amtshandlung die Wunden des NSU – die größten Wunden, die seiner Heimat in der jüngsten Geschichte zugefügt worden sind – nicht mitdenkt.
Ich lasse mir nicht einreden, dass ich meine Empörung und Wut nicht zur Schärfung meines politischen Blicks nutzen soll, wegen dieses Blicks wurde ich von Verlage gegen Rechts zur Leipziger Buchmesse eingeladen. Ich nahm die Einladung an und fuhr hin, obwohl ich Sorge vor verbalen Übergriffen hatte. Es wird in Deutschland aktuell sehr viel über das richtige Maß und probate Mittel der Abgrenzung von Rechts diskutiert. Dabei wird häufig vergessen, dass es sehr viele Menschen gibt, die sich diese Fragen gar nicht stellen müssen, weil sie als Menschen von Rechten gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Ich muss mich nicht von Rechts abgrenzen, das erledigen Rechte für mich, ob ich will oder nicht. Und bisher habe ich jedes Mal, wenn ich dies in meinem Leben zu spüren bekam, mit Tränen reagiert, denn auch Worte können Gewalt ausüben.
Kein Wettstreit, sondern Politik
Während ich zur Buchmesse fuhr, hatte ich vor allem Angst davor, angesichts möglicher rechter Angriffe Schwäche zu zeigen, Angst vor meinen eigenen Tränen. Ich glaube, dass alle, die an Verlage gegen Rechts beteiligt sind, auf der Messe eine gewisse Furcht spürten. Nicht zuletzt deshalb klingt es in meinen Ohren geradezu perfide, wenn vorgeschlagen wird, lieber mit rechten Wortführer*innen ins Gespräch zu kommen, als Menschen zu unterstützen, die sich auf der Bühne exponieren, um etwas zu verteidigen. Dirk Pilz formulierte dies in seinem treffenden Kommentar zu Tellkamps Auftritt im Dresdner Kulturpalast so: „Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus, dem Neofaschismus, dem Rassismus ist kein Wettstreit in der Habermas’schen Arena des Argumentenaustauschs. Es geht um Politik, knallharte, rücksichtslose, kalte Politik.“
Als ich gemeinsam mit Christiane Frohmann, Michaela Maria Müller und einem als Wehrmachtsoffizier verkleideten Cosplayer in den Zug in Richtung Leipzig stieg, sprachen wir von der „Erklärung 2018“. Ich war nachhaltig verwirrt, wie pompös und hochmütig darin der Titel über einem kurzen Text der Kleingeistigkeit ragte, aber Christiane erklärte mir immer wieder geduldig, dass es darum nicht ginge: „Fang gar nicht erst mit einer Stilkritik an. Werte es nicht sinnhaft auf. Es geht nicht um Inhalte, nicht um ‚Erklärung‘, sondern nur um den Effekt.“
Aber es ließ und lässt mich trotzdem nicht los: Wie geschieht es, dass Menschen meinen, ihre Angst wäre eine valide Grundlage für eine politische Meinung, die man diskutieren müsse? Angst darf doch nicht am Ende, sondern höchstens am Anfang eines Denkprozesses stehen. Was ist mit Künstler*innen passiert, die als solche zwar moralisch niemandem überlegen sind, deren Stoff aber das Menschsein ist, wenn sie plötzlich den Menschen im Anderen nicht mehr sehen können? Tellkamp, Maron und andere „Befremdete“ haben das intellektuelle Rüstzeug, um sich und ihre Rolle zu erkennen, sie verhalten sich offenen Auges unmoralisch.
Die Menschenrechte stehen immer auf der Seite der Schwächeren, das ist ihre Funktion. Sie sind dafür da, die Mächtigen und Privilegierten in die unbequeme Lage zu bringen, andere Menschen, die weniger mächtig und privilegiert sind zu respektieren. Scheinbar ist es, weil Menschen vor Krieg und Armut fliehen, ein wenig unbequem geworden für die Unterzeichnenden der „Erklärung 2018“. Doch Menschenrechte bleiben davon unberührt.
Eingefrorene Weichen und erkaltete Diskurse
Als unser Zug aufgrund der Witterungsverhältnisse hinter Bitterfeld steckenblieb, konnten wir noch kurz Witze über Verschwörungstheorien machen – ist Bitterfeld nicht Monika-Maron-Stadt? –, bevor wir begriffen, dass ich es nicht pünktlich zur Diskussion, für die ich gebucht war, schaffen würde. Derweil soffen und grölten ein paar Nazis in unserem Abteil und erwiderten auf die Bitte, den Krach einzudämmen: „Aber wenn die Alis das machen, ist’s natürlich egal.“
Sascha Lobo, der mit einem anderen Zug in Bitterfeld hängengeblieben war, konnte ebenso wie ich nicht an der Diskussion teilnehmen, dafür war der Verleger von Antaios vor Ort und beschwerte sich darüber, nicht eingeladen worden zu sein. Ich wünsche Herrn Kubitschek einen Tag im Leben einer Frau wie mir, die noch nie erwarten konnte, irgendwo selbstverständlich eingeladen zu sein, angehört zu werden, dazuzugehören, die erfahren hat, dass sie nirgendwo sofort mitgedacht und mitgemeint ist. Ich wünsche Herrn Kubitschek etwas Demut und Dankbarkeit für die Selbstverständlichkeit, mit der er sein Leben führen kann.
Nach der schlussendlich siebenstündigen Reise von Berlin zur Leipziger Messe war ich ein wenig überfordert von den vielen Menschen dort, aber vor allem dankbar für die Anwesenheit all der Cosplayer*innen, die so viel Farbe und Überraschung mit sich brachten. Manche hatten sich sehr viel Mühe mit ihren Kostümen gegeben und posierten für Fotos, andere verteilten Gratis-Umarmungen und legten anscheinend mehr Wert auf die Gemeinschaft mit anderen, die das lieben, was sie lieben. Sicherlich erkannten sich die einzelnen Fangruppen untereinander, für mich aber waren sie ein chaotisches bewegtes, surreales Wimmelbuch, ein Pikachu hier, eine Elfe dort, aber auch unzählige Figuren aus mir unbekannten Welten. Jede und jeder von ihnen wusste, weshalb sie auf der Messe waren, das reichte. Ihr Universum wirkte auf mich so viel größer und realer als das künstlich binäre System, das mich und die Rechten in Halle 3 aufeinander bezieht. Absurd zu denken, man könnte eine Welt ohne alle anderen erschaffen.
Mit Menschen reden
Foto: Christopher Werth
Lesley-Ann Brown, die bereits um sechs Uhr einen Flug aus Kopenhagen nach Berlin genommen hatte, um mit uns zusammen ihr Buch und unser Projekt zu präsentieren, kam leider ebenfalls nicht in Leipzig an und verbrachte den Tag mit in Berlin lebenden Freunden aus Trinidad und Tobago. Dies brachte uns in die Situation, das zu tun, was wir partout vermeiden wollen, nämlich, für andere zu sprechen. Tabletalk Europe basiert auf der Annahme, dass nichts gesellschaftlich förderlicher ist als Begegnungen von Menschen, die sich gegenseitig zuhören und ihre Geschichten erzählen. Wir wollen verstehen lernen, wie wir uns unterscheiden, Differenz sehen und anerkennen, aber nicht benutzen, um Macht zu legitimieren oder Hierarchien zu konstruieren. Wir wollen dazulernen, ständig, weil jeder Mensch immer etwas zu lernen hat. Ich saß da in Leipzig mit zwei Frauen auf der Bühne, die besonders intensiv mit mir zusammen lernen, die mich stützen und die ich gern stütze, und ich las Lesley-Anns Sätze, die mich sehr bewegt haben:
„I too must examine myself, as I insist on examining history and the geographies that have been etched in my memory through lineage and travel. I too possess the coloniser in my veins, in my body, my mind. I too, must undergo a rigorous introspection that requires that I reckon with the internalisation of colourism, racism, classism, mysogyny, and sexism.“
Menschen sehen
Im Anschluss wusste ich kaum noch, wohin mit mir. Ich lief hin und her, in diesem großen Hühnerstall, und fand irgendwann meine Freunde wieder. Sie saßen im Congress Center am Wasserbecken und lasen Texte aus dem Projekt Tausend Tode schreiben des Frohmann Verlags, darunter auch den der Autorin Ianina Ilitcheva, die ich nie kennenlernte und die 2016 im Alter von knapp 34 Jahren in Wien gestorben ist. Kurz davor hatte Rick Reuther gesagt, dass sie sich in Halle 3 nun kloppten, die Nazis und die Demonstrierenden, dann las er Ianinas Text über den Tod:
„alles, was nicht echt und nicht bedeutsam war, alles Erdachte, Inszenierte, alles verdampft angesichts der Konturschärfe, der sengenden Klarheit des Jetzt. von nun an keine Einhörner, keine sprechenden Bäume, nichts dergleichen mehr. das einzige fiktive Wesen, das einzige, woran du fortan glauben wirst, das werde ich sein. eingebrannt in dir, für immer, in dieser einen Szene, an einem Ort mit einer Weggabelung. dies ist ein Übertritt und ein Verfehlen, das du für immer auf- und ablaufen lassen wirst, immer und immer wieder, in dir werde ich ewig sterben.“
Nach diesem Text, in dem selbst das Kleinste noch bedeutsam ist, in dem in jedem Satz das Schöne des Lebens zum Ausdruck kommt, wenngleich er die hässlichen und stinkenden Dinge nicht unterschlägt, da kamen dann doch die Tränen, vor denen ich Angst hatte. Aber ich war nicht alleine, und ich schämte mich nicht.
Auf dem Weg zurück, vom Kopenhagener Flughafen über die Eisenbahnbrücke rüber nach Schweden, mit drei verschiedenen Währungen in der Tasche und einem Kopf voller Eindrücke, war ich zu müde, um noch meinen Koffer auf die Ablage zu heben. Ein Mann hinter mir sprang auf und half. Ich dankte ihm und sagte: „It’s not that heavy really, I’m just too tired to lift it.“ Er lachte sehr herzlich und erwiderte: „Well, then rest a bit now.“
Später hörte ich, wie er mit seinen beiden Mitreisenden Deutsch sprach, sie unterhielten sich über den Sieg der Kölner Fußballmannschaft. Wir wussten nicht, dass wir eine gemeinsame Muttersprache hatten, aber was macht das schon. Er fragte seinen Kumpel: „Was, wir haben echt gewonnen?“
Ich weiß nicht, wo meine Heimat liegt, aber ich weiß, mit wem ich sie teilen möchte: Mit Menschen, die Menschen sehen.
Asal Dardan