Offener Brief zur Absage der Leipziger Buchmesse 2022

Die Leipziger Buchmesse ist abgesagt. Zum dritten Mal und in einem dramatischen Rennen. Noch am 8. Februar erklärten die Verlage der Kurt-Wolff-Stiftung, dass sie die Messe für unverzichtbar halten. Geholfen hat es nicht. Die Absage der Leipziger Buchmesse ist nicht nur für Verlage, Autorinnen und die Region Leipzig ein ökonomischer Verlust, sie ist ein schwerer Schlag gegen die Kulturlandschaft und zeugt von gesellschaftspolitischer Kurzsichtigkeit. Büchermacherinnen bestellen die Felder Sprache, Erzählung, Bildung, Wissen, Weltwahrnehmung, Geschichte. Ohne ihre idealistische Hingabe veröden diese Felder und werden zu Monokulturen profitorientierter Bewirtschaftung. Bibliodiversität bedarf kulturellen Verantwortungsgefühls, publizistischer Vielfalt und des solidarischen Miteinanders. Die Leipziger Buchmesse ist ein Ort, dies zu zeigen und zu feiern, und Motor zugleich, sie ermöglicht Begegnungen und Entdeckungen, die nicht einem unmittelbaren Verwertungszwang unterworfen sind.

Die Leipziger Buchmesse ist die Begegnungsstätte für Lesepublikum, Autorinnen und Büchermachende. Nur hier erfahren kühne, engagierte, nichtetablierte Autorinnen und Verlage so viel Sichtbarkeit und Interesse. Nur hier wird durch die Vielzahl der Veranstaltungen bei „Leipzig liest“ im gesamten Stadtgebiet die Relevanz von Büchern für die Gesellschaft, unabhängig von Verlagsgröße und Bestsellerlisten, explizit zelebriert. Deshalb befremdet uns in der Begründung der Absage besonders eine Formulierung: Durch die plötzlichen Stornierungen einiger großer Verlage und Verlagsgruppen sei „die erwartete Qualität und inhaltliche Breite nicht mehr gewährleistet.“ Wird allen Ernstes ökonomische Masse mit Qualität gleichgesetzt, um die weniger großen Akteure auf dem Buchmarkt als irrelevant abzutun? Das kommt einer Verhöhnung derer gleich, die mit ihrer Arbeit das kulturelle Leben erst ermöglichen. Die Themen aufgreifen, Talente entdecken, noch unbekannte Autor*innen übersetzen, Menschen an die Literatur heranführen, Veranstaltungen an kleineren und kleinsten Orten durchführen und mit viel Herzblut die Vielfalt herstellen, die sich in den Augen der Gewinnoptimierer nicht rechnet, mit der sie sich gleichwohl gern schmücken – und aus der sie sich bedienen, sobald das öffentliche Interesse groß genug und das unternehmerische Risiko klein genug ist.

Noch befremdlicher ist das beflissene Raunen in etlichen Medien: Sei Leipzig noch zukunftstauglich, brauche es überhaupt noch Buchmessen, da doch die Verlagskonzerne ihre Käuferschaft inzwischen „modern, agil, transformiert“ via Onlinemarketing erreichen und folglich auf physische Präsenz verzichten könnten. Forsch wird behauptet, noch dazu im Branchenblatt, die „Buchbranche schaffe sich selber ab“, als ginge es um eine Kugelschreibermarke. Das Festhalten an nichtvirtuellen Formaten sei „Sentimentalität“. Damit werden Lesende, Schreibende, an Inhalten (statt „Content“) und am Austausch Interessierte für überholt und überflüssig erklärt. Wozu braucht es noch echtes Publikum, echte Bücher, echte Lesungen und Podiumsdiskussionen, wenn man sich doch nur mehr als „Erlebnis- (und) Emotionsermöglicher“ begreift? Das ist die Logik von Spaßbädern und Lieferdiensten. Das ist die Aufkündigung des gesellschaftlichen (und Branchen-) Konsens über das Kulturgut Buch.

Unsere Gesellschaft braucht den freien Austausch von Ideen, den demokratischen Diskurs, um Hasspredigern und Geschichtsleugnern entgegenzutreten und gegenwärtige wie aufziehende Krisen zu bewältigen. Gerade im Hinblick auf das unwürdige Schauspiel auf der letzten Frankfurter Buchmesse war es #VerlageGegenRechts ein großes Anliegen, die politische Debatte zu beleben, statt dumpfem demokratie- und kulturfeindlichen Gedankengut Raum zu geben, und aus der Vielfalt engagierter Perspektiven respektvoll dringend notwendige Diskussionen zu führen. Aus diesem Grunde hatte #VerlageGegenRechts, ein Bündnis aus rund 180 Verlagen und Einzelpersonen, für die Leipziger Buchmesse 2022 neun Podien zu akuten Fragen vorbereitet: rechte Angriffe auf den Kulturbetrieb (nicht nur in Frankfurt), Langzeitfolgen der Pandemie für Frauen, die Verfolgung von LGTBQ in den autoritären Staaten in Osteuropa, die Aufklärung des NSU-Komplexes, Klimagerechtigkeit, Antiromaismus, unabhängiges Publizieren. Diesen Podien wird durch die Absage das Publikum entzogen.

Muss die Leipziger Buchmesse erst von ökonomischen Zwängen und Renditevorgaben befreit werden, um ihre eigentliche und wesentliche Aufgabe zu erfüllen? Stellen wir die Gegenfrage: Sind die Konzernverlage – oder besser, ihre Marketingabteilungen – nicht vielleicht entbehrlich für dieses Fest kultureller Begegnung, für diese Feier von Diversität und Offenheit, für Diskussion und Austausch über Bücher und Bildung, Weltentdeckung und Horizonterweiterung? Brauchen wir, braucht die Gesellschaft nicht vielleicht eine von diesen Konzernen unabhängige Leipziger Buchmesse?

Sehen wir die Lage ganz nüchtern: wir befinden uns in einer Krise, weitere werden folgen. Die gesellschaftlichen Herausforderungen sind gewaltig; und diesen wird man nicht mit einer Flucht in die digitale Welt, ins Reich der Algorithmen und Simulationen begegnen können. Wir brauchen Bücher für Menschen, für Herzens- und Verstandesbildung, eine Literatur, die nicht als beliebige Ware daherkommt. Wir brauchen die Begegnungen, den Austausch, den gesellschaftspolitischen Diskurs. Die Leipziger Buchmesse ist ein Ort dafür. Wir brauchen viele Leipzigs. Jeder Mensch hat eine Verantwortung für die Gesellschaft, in der er lebt. Kulturschaffende haben qua Beruf eine besondere Verantwortung. Werden wir ihr gerecht. In Leipzig und überall.

#verlagegegenrechts

  1. Februar 2022